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You are here: Arven vår > The Dream Poem > Das Traumlied
Und das war Olav Åknesson,
der einst so lange schlief.
Am Dreiköngistag 6. Januar, in katholischer Zeit Epiphanias (Erscheinungstag) genannt, erwacht ein junger Mann, Olav Åsteson, aus einem 13 Tage langen Schlaf. Er kleidet sich ein, reitet zur Kirche, wo er den Gottesdienst unterbricht und von seinen Träumen erzählt. Im Traum hat er das Fegefeuer gesehen, aber auch das Paradies; er hat das Jüngste Gericht miterlebt und den Kampf zwischen dem Teufel und dem Erzengel Michael.
Das ist – grob geschildert – der Inhalt der norwegischen Visionsballade Draumkvedet (Das Traumlied). Das Lied ist ein einzigartiger Beitrag Norwegens zur europäischen Musik-, Literatur- und Kulturgeschichte. Als mündliche Überlieferung wahrscheinlich mehrere hundert Jahre alt, hat es in einem bis ins 19. Jahrhundert isolierten Gebiet des südnorwegischen Gebirges überlebt, wo es ab 1840 entdeckt und aufgeschrieben wurde.
Das Rätsel des Traumlieds
Das Traumlied enthält katholische, vorchristliche wie auch modernere Elemente. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist das Alter des Liedes ein Rätsel. Die Entstehungstheorien gehen weit auseinander und strecken sich vom Jahr 400 n. Chr. bis ins 19. Jahrhundert. Höchstwahrscheinlich stammt das Lied aus dem 13. bis 15. Jahrhundert, um die Zeit der "schwarzen Pest", als europäische Ritterballaden von ähnlicher Form auch in Skandinavien populär waren.
Man kann das Traumlied ein Volkslied aus der oberen Telemark nennen, obwohl der genaue Entstehungsort nicht bekannt ist. Gleichzeitig steht es in einer starken europäischen Tradition. Es hat thematische Ähnlichkeiten mit der Vision Tundals (Irland/Deutschland ca. 1149, auf Altnorwegisch «Duggáls Leizla»), mit dem «Solarljod» aus dem Island des 13. Jahrhunderts und mit Dante Alighieris berühmter «Divina Comedia» (Italien vor 1321).
Die Ähnlichkeit zu europäischer Visionsdichtung deutet auf einen möglichen Verfasser hin – einen Mönch vielleicht, einen Priester, einen Aristokraten oder einen reisenden Beamten. Auch ein bereister Bauernsohn der Gegend kann beigetragen haben. Unabhängig davon haben die Generationen der Sänger den Text natürlich durch die Jahrhunderte beeinflusst und ihren jeweiligen Verhältnissen angepasst.
Ein lokales Volkslied?
Die Ballade vom Traum des Olav Åsteson wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der westlichen Telemark (im südnorwegischen Gebirge) entdeckt. Norwegische Volkskundler wie Olea Crøger, M. B. Landstad, Ivar Aasen, Sophus Bugge, Moltke Moe und Rikard Berge schrieben hier zwischen 1840 und 1910 Texte und Melodien des Traumlieds in verschiedenen Varianten auf.
Die SängerInnen waren zumeist Frauen – alte Häuslerinnen sowie Mägde, die kleinere und grössere Teile eines Liedes wiedergeben konnten, das seit Jahrhunderten in der Gegend bekannt gewesen sein muss. Ursprünglich soll es über 100 Strophen gehabt haben.
Die unterschiedlichen Varianten wurden in einem relativ begrenzten Gebiet und über eine kurze Periode hinweg aufgeschrieben, von der Variante der Maren Ramskeid aus Brunkeberg (Kviteseid, 1840) über die der Anne Lillegård (Eidsborg, 1847) und Torbjørg Ripilen (Mo, 1890) bis hin zu Marit Teiten aus Grungedal (Vinje, 1910).
Diese und die meisten anderen Sängerinnen lebten in einem Umkreis von etwa 50 km um die Stabkirche von Eidsborg. Da wir keine Varianten aus anderen Landesteilen kennen, kann man davon ausgehen, dass das Lied (zumindest im 19. Jahrhundert) nur hier gesungen wurde. Dass es viel gesungen wurde, z. B. bei Begäbnissen, scheint sicher. Noch heute wird gesagt, dass niemand das ganze Lied singen konnte, aber auch, dass es niemand gab, der nicht wenigstens ein kleines Stück davon auswendig konnte.
Deutungen und Theorien
In den meisten Varianten lautet der Name der Hauptperson Olav Åknesson oder Åknesi. Der Name «Åsteson» (Sohn der Åsta) ist eine spätere Umdichtung. Man stellte sich vor, Olav sei mit dem bekannten norwegischen Vikingerhäuptling Heilig-Olav (ca. 995-1030) identisch, der eine Mutter mit Vornamen Åsta hatte. Das ist allerdings unlogisch, weil es traditionell der Vorname des Vaters war, der an Kinder weitervererbt wurde, im Falle Heilig-Olavs «Haraldsson». Die Theorie hat heute keine Bedeutung mehr, doch hielt sich der Name «Åsteson» hartnäckig weiter. Eine andere Theorie (M. B. Landstad) identifizierte Olav mit einem dänischen Missionar, Ansgarius oder norwegisch «Aasgaardsson» genannt.
Auf dieselbe fantasievolle Weise «rekonstruierte» Moltke Moe (1894) das Traumlied, indem er einzelne Strophen aus verschiedenen Varianten zusammensetzte und mit «fremden» Elementen, z.B. altbekannten Volksliedstrophen, zu einer Ballade von über 50 Strophen ergänzte. Diese Version spiegelte wohl eher das Bedürfnis nach einer christlichen Nationaldichtung (Norwegen wurde 1905 unabhängig) als einen wissenschaftlich begründeten Rekonstruktionsversuch wieder. Trotzdem ist es diese Version, die sich in vielen Schulbüchern erhalten hat.
Die inhaltlichen Bilder und Beschreibungen des Traumlieds zogen ebenfalls Theorien und Deutungen nach sich. Der schmerzensreiche Weg über die «Gjallarbrücke» (vielleicht von der «Geldebrücke» einer dänischen Predigtsammlung des 15. Jahrhunderts abgeleitet) ist eine klassische Wanderung in die Unterwelt, wie wir sie aus vielen Mythologien kennen. Doch ist es vielleicht auch eine Wanderung in einer alten Landschaft der oberen Telemark, deren Flurnamen heute vergessen sind («Heklemo», «Våsemyrane» usw.)
Auch Ausländer liessen sich vom Traumlied faszinieren. Der Philosoph und Begründer der Antroposophie Rudolf Steiner kam auf einer Norwegenreise im Jahr 1910 mit dem Lied in Berührung. Er übersetzte den Text ins Deutsche und behauptete, das Lied sei von einem Mönch verfasst worden, der einer südnorwegischen «Mysterienschule» des 5. Jahrhunderts angehörte. Eine spannende Theorie, für die es allerdings keinerlei Beweise gibt.
Eine ähnlich spekulative Theorie, unter anderem von dem norwegischen Theologen und Mystiker Ivar Mortensson-Egnund unterstützt, deutete das Traumlied als eine metaphysische Reise zu den Sternen, über die Sonnenbahn und durch die Tierkreise bis in die Milchstrasse. Mortensson-Egnund war Pfarrer in der naheliegenden Gemeinde Fyresdal zwischen 1910 und 1914, eine Periode, in der das nationale Interesse für das Traumlied einen Höhepunkt erreichte. Mortensson-Egnund hatte bereits eigene Gedichte unter dem Namen «Draumkvæe» herausgegeben (1895) und das Traumlied in einem altmodischen, archaischen Norwegisch neu gedichtet (1905).
Am anderen Ende der Skala befindet sich der radikale Kulturkritiker Georg Johannessen aus Bergen. In einem 1993 erschienenen Essay behauptete er, das Traumlied sei nichts weiter als die Imitation einer Mittelalterballade, ein Falsum, von katholischen Aktivisten nach der Reformation verfasst, um die in Norwegen alles beherrschende protestantische Kirche zu provozieren.
Die heute glaubwürdigsten Forscher, die Norweger Brynjulf Alver und Olav Bø, der Schwede Bengt R. Jonsson und der Engländer Michael Barnes, diskutieren verschiedene Alternativen auf weniger spektakulärer Grundlage. Doch auch sie haben ihre jeweils persönlichen Hypothesen. Wir wissen also, dass wir nicht wissen.
Die Pest und das Traumlied
Einer der Refrains des Traumlieds, «In Broksvalin, da steht das Jüngste Gericht», lädt zu einer interessanten Deutung ein. Mit «Broksvalin» kann ein Wolkensaal gemeint sein – ähnlich dem altnordischen Walhall – oder auch ganz konkret der Laubengang einer Stabkirche (norwegisch «svalgang»). Ist es vielleicht sogar der «svalgang» um die Stabkirche von Eidsborg? Wir wissen es natürlich nicht. Dass die Balladensänger die Eidsborger Stabkirche kannten, ist allerdings sicher.
Sicher ist auch, dass nach der Pest (dem “schwarzen Tod” im Jahr 1349/50, der zwei Drittel der Lokalbevölkerung dahinraffte) ein religiöses Vakuum entstand. Die meisten Priester waren gestorben und die Kirchen verlassen. Was liegt näher als anzumehmen, dass die Überlebenden religiöse Rituale nach eigenem Bedarf zusammenstellten, gestützt auf ihre aktuellen Todeserfahrungen?
Ist es denkbar, dass das Traumlied in dieser Zeit eine besondere Bedeutung gewann? Kann ein Zureisender den Überlebenden von den religiösen Visionen berichtet haben, die in anderen Teilen Europas bekannt waren? Wurde die lokale Variante einer solchen Vision aus der Form einer damals verbreiteten Ritterballade entwickelt? Basiert die Geschichte von Olav, der «13 Tage schlief», vielleicht auf einem wirklichen Ereignis – der Erzählung von einem jungen Mann, der auf mirakulöse Weise die Pestkrankheit überlebte? War das Traumlied ein gesungener Trost in einer unsäglich grausamen Zeit?
Wo und wie das Traumlied entstand und zu welchen Anlässen es gesungen wurde, werden wir nie erfahren. Die Kraft der Bilder und Vorstellungen, die im Lied beschrieben sind, kann man allerdings noch immer nachvollziehen. Dass es so lange Zeit überlebt hat, deutet darauf hin, dass das Traumlied von existentiellen Erfahrungen geprägt ist, die sowohl für die Sänger als auch für ihre Zuhörer wichtig waren.
Originalversionen und Adaptionen
Das Traumlied hat seit seiner Entdeckung unzählige Künstler zu eigenen Werken inspiriert, nicht zuletzt norwegische Komponisten. Ludvig Mathias Lindeman gab bereits im Jahr 1853 eine Version des Traumlieds für Gesang und Klavier heraus. Im 20. Jahrhundert kamen die Stücke dann wie Perlen an der Schnur: von David Monrad Johansen, Klaus Egge, Sparre Olsen, Johan Kvandal, Eivind Groven, Ludvig Nielsen, ja sogar vom Modernisten Arne Nordheim und der Progrockgruppe Neograss.
Nach 1950 wurden eine Reihe «Originaleinspielungen» mit Sängern von traditioneller Volksmusik vorgenommen. Ob diese Aufnahmen allerdings etwas darüber aussagen, wie das Traumlied in alter Zeit gesungen wurde, kann bezweifelt werden. Die Sänger des 20. Jahrhunderts sind stark von den aufgeschriebenen und «rekonstruierten» Texten beeinflusst, wie auch von den Melodien, die Ende des 19. Jahrhunderts von L. M. Lindeman und dem populären «Kammersänger» Torvald Lammers etabliert worden waren.
Die bekannteste Version des Traumlieds – in moderat moderner Bearbeitung – ist die von Agnes Buen Garnås, 1984 als LP erschienen. Sie basiert auf der historischen Variante der Bauersfrau Maren Ramskeid aus Kviteseid (ca. 1840), von M. B. Landstad aufgeschrieben und ergänzt. Auch die bekannten Artisten Sondre Bratland (2002) und Berit Opheim Versto (2008) haben eigene Versionen herausgegeben. Noch heute wird das Traumlied von lokalen Musikern konzertant aufgeführt, oft im Januar.
Auch viele bildende Künstler haben sich vom Traumlied inspirieren lassen, unter anderem die bekannten Maler H. G. Sørensen und Gerhard Munthe, oder der Textilkünstler Torvald Moseid. Im lokalen Museum «Grimdalstunet» in Skafså ist ein Bilderzyklus zum Traumlied von Karl Erik Harr ausgestellt.
Lesen Sie hier den Originaltext des Traumlieds, mit einer Übersetzung von Tilman Hartenstein.
Im West-Telemark Museum, gleich bei der erwähnten Stabkirche von Eidsborg, kann man ab 2020 eine audiovisuelle Ausstellung zum Thema Traumlied erleben, die ein Werk der norwegisch-englischen Komponistin und Klangkünstlerin Natasha Barrett enthält. Das Werk basiert auf zwei neuen Einspielungen des Traumlieds (nach Maren Ramskeid), gesungen von Ellen B. Nordstoga und Halvor Håkanes in der Eidsborger Stabkirche.
Die Öffnungszeiten der Ausstellung und des West-Telemark Museums finden Sie hier.
Zum Anhören hier kurze Auszüge aus der Klanginstallation:
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